KO'EYENE – Kuratorisches Statement
Die Vielfalt verschiedener Baumarten im Theater- und Museumspark rings um das Staatstheater Braunschweig bietet Gelegenheit zur Entschleunigung und Erfahrung alternativer Konzepte von Zeitlichkeit, die auf einem holistischen und nicht-chronologischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichermaßen einschließendem Verständnis von Zeit beruhen. Damit bildet das Projekt einen Gegenentwurf zur Auffassung von Fortschritt als etwas, das auf eine idealisierte Zukunft ausgerichtet ist, und sprengt die im westlichen Denken verankerte lineare Auffassung von Zeit. In den Fokus rückt ein Verständnis von „Heute“, das der Verflechtung des Lebens Rechnung trägt.
Ausgehend von dem Begriff „Ko'eyene”, der in der Indigenen Gemeinschaft der Terena „Heute” bedeutet, ergründet das Festival Theaterformen 2024 das Leben unterschiedlicher Baumarten im Theaterpark, indem es die Verflechtung verschiedener Zeitachsen zelebriert, und alle Wesen einbezieht, die den Park durchqueren – sowohl menschliche als auch nichtmenschliche. Die spezifischen Perspektiven jedes Baums regen zum Nachdenken an über das Leben der Dinge und Wesen im Hier und Jetzt.
Mittels interdisziplinärer Praktiken wie Keramik, Fotografie, Videoprojektion und Flechtkunst laden die Kurator*innen des Projekts Denilson Baniwa, Naine Terena, Gustavo Caboco Wapichana und Jamille Pinheiro Dias Indigene Künstler*innen und Kollektive sowie Menschen aus den verschiedenen Gemeinschaften in Braunschweig ein, zeitliche Dimensionen zu erfahren und erfahrbar zu machen, die das Wissen der Vorfahr*innen und den permanenten Kampf gegen das koloniale Erbe widerspiegeln.
Darüber hinaus stützt sich Ko'eyene auf Erkenntnisse aus dem Band „Futuro Ancestral“ ("Zukunft der Vorfahr*innen") (Campanhia Das Letras, 2022) des Indigenen Philosophen und Umweltaktivisten Ailton Krenak. Krenaks Auffassung von Kapitalismus als einem System, das Wahrnehmung und Zukunft beeinflusst, bildet die Grundlage für ein Projekt, das sich gegen das dominierende Konzept idealisierter Zeit richtet, und zu einer tieferen Verbindung mit der Gegenwart und einem Bewusstsein für die Verflechtung mit nicht-menschlichen Wesen anregt. Krenak verweist auf die verheerenden Folgen dieses gnadenlosen Strebens nach einer imaginierten Zukunft auf Artensterben, Klimaveränderung und unseren Planeten allgemein. Er geht davon aus, dass die ewige Fixierung auf die Zukunft dazu führt, dass wir die Gegenwart aus dem Blick verlieren, und die Konsequenzen dessen gehen weit über menschliches Leid hinaus: Sie betreffen das gesamte Ökosystem.
Die Künstler*innen kommen aus den Gemeinschaften der Baniwa, Terena, Wapichana, Macuxi, Shipibo-Konibo, Kadiwel, Karapotó und Qom. Ihre Perspektiven sind durch verschiedene kulturelle Kontexte geprägt – und verbunden durch ihre jeweiligen Kosmologien, den gemeinsamen Kampf gegen den Extraktivismus und die Verteidigung von traditionellen Formen von Wissen, Praktiken und Territorien. Ko'eyene eröffnet ihnen einen Raum, in dem sie zusammenkommen und sich über geopolitische Grenzen hinaus organisieren können. Staatengrenzen decken sich selten mit dem von Indigenen Bevölkerungen bewohnten Land der Vorfahr*innen, weshalb es umso wichtiger ist, alternative Räume für fruchtbare interkulturelle Begegnungen zu schaffen.
Die Forderung nach gerechter Repräsentation handlungsfähiger und eigenständer Indigener Stimmen in den Künsten und darüber hinaus bleibt dringlich, nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Vorfälle von Exotisierung und Tokenism. Im Rahmen des Festival Theaterformen 2024 bringt Ko'eyene Indigene Künstler*innen aus verschiedenen Regionen und Gemeinschaften Südamerikas zusammen, regt zu interkulturellem Austausch an und unterstützt so die Entstehung von Kooperationen, die von Indigenen Künstler*innen initiiert und gestaltet werden. Die Zusammenkunft dient der Solidarität und gemeinsamen Aktionen, und ermutigt Indigene Künstler*innen staaten- sowie sprachenübergreifend zum Kampf gegen gemeinsame Herausforderungen – und für ihre Rechte und Souveränität.
Denilson Baniwa, Naine Terena, Gustavo Caboco Wapichana & Jamille Pinheiro Dias
Denilson Baniwa wurde in Barcelos, Amazonas, geboren und gehört zur Gemeinschaft der Baniwa. Er ist Bildender Künstler, Kommunikator und Aktivist für die Rechte Indigener Gemeinschaften. Derzeit lebt er in Niterói, wo er gemeinsam mit Freund*innen Rádio Yandê, einen wichtigen Indigenen Kommunikationskanal, gegründet hat. Als Künstler beschäftigt er sich mit der Präsenz Indigener Gemeinschaften in der Geschichte Brasiliens und versucht, das Wissen über Indigene Kulturen und Präsenz zu erweitern. Er stellte auf der Biennale von São Paulo (2023) aus und kokuratierte 2024 gemeinsam mit Arissana Pataxó und Gustavo Caboco den Hãhãwpuá Pavillon auf der Biennale von Venedig.
Naine Terena ist Angehörige der Terena-Gemeinschaft und arbeitet als Forscherin, Universitätsdozentin, Kuratorin, Künstlerin und Kunstpädagogin. Seit 2012 leitet sie das Kulturunternehmen “Oráculo comunicação, educação e cultura” ("Orakel Kommunikation, Bildung und Kultur"). Das Unternehmen fördert Maßnahmen auf dem soziokulturellen Markt und zielt darauf ab, Waren und Dienstleistungen anzubieten, die eine positive Auswirkung auf ihre Umgebung haben und versucht durch Kommunikation, Kunst und Kultur Lösungen für Fragen des alltäglichen Lebens mitzugestalten.
Gustavo Caboco Wapichana gehört der Gemeinschaft der Wapichana an und arbeitet in den Bereichen Bildende Kunst, Literatur und Film. Seine künstlerische Produktion umfasst die Bereiche Zeichnung, Malerei, Textilien, Installation, Performance, Fotografie, Video, Ton sowie Text und stellt Mittel zur Reflexion über die Vertreibung Indigener Körper, die Prozesse der (Re-)Territorialisierung und die Produktion von Erinnerung zur Verfügung. Zu seinen wichtigsten Ausstellungen gehörte die Teilnahme an der 34. Biennale von São Paulo im Jahr 2021. Zusammen mit Arissana Pataxó und Denilson Baniwa war er 2024 Kokurator des Hãhãwpuá Pavillons auf der Biennale von Venedig.
Jamille Pinheiro Dias ist Dozentin und Direktorin des Zentrums für Lateinamerika- und Karibikstudien an der Universität London. Ihre Forschungsschwerpunkte befassen sich mit kultureller Produktion im Amazonasgebiet, Umweltgeisteswissenschaften, Indigenen Künsten und Fragen der Übersetzung im Zusammenhang mit Lateinamerika mit Schwerpunkt Brasilien.