Liebes Publikum!
Liebes Publikum,
diese Ausgabe des Festivals Theaterformen ist in vieler Hinsicht ein Neubeginn auf einer vertrauten Basis. Für mich persönlich ist es eine Rückkehr in die Stadt, in der ich aufgewachsen bin und deren Theater mich früh geprägt haben, von der Freien Szene über die Intendanz von Ulrich Khuon bis zum Festival Theaterformen, bei dem ich seit 1995 Stammgast bin. Diese Heimkehr gibt mir Gelegenheit, Hannover neu kennenzulernen. Besonders fällt mir die Vielzahl an Initiativen und Organisationen auf, die das Zusammenleben mitgestalten. In diesen vielfältigen Formen von Engagement liegt ein großes Potential der Stadt, und wir haben in den letzten Monaten enge Kontakte zu über 30 lokalen Initiativen geknüpft, die Teil eines großen Stadtlabors geworden sind.
Ein Thema, das ich zum Festival mitbringe, ist die Barrierefreiheit. Das gehen wir als langfristigen Prozess an, auf dem uns die behinderten Expert*innen Noa Winter und Sophia Neises begleiten. Eine detaillierte Bestandsaufnahme in den Spielstätten ist die Grundlage, auf der wir gemeinsam mit dem Schauspiel kurz- und langfristige Verbesserungen planen. Neu ist das Angebot einer Audiodeskription für sehbehindertes Publikum und Sitzsäcken in allen Spielstätten als Option für Menschen mit chronischen Schmerzen. Und nicht zuletzt ist auch diese Webseite endlich barrierefrei. Dieses Vorhaben steht in engem Zusammenhang mit der diskriminierungskritischen Arbeit, für die das Festival bekannt ist und die wir selbstverständlich weiterführen.
Eine Herausforderung in diesem Jahr ist die Pandemie, die uns zwingt mit einer ganz neuen, sich ständig verändernden Situation umzugehen. Hier sind wir auch auf Ihre Mitwirkung angewiesen, denn wir müssen gemeinsam neu lernen, wie wir auf sichere Weise wieder Kultur erleben können. Vielen Dank, dass Sie diesen Weg mit uns gehen!
Eine Konstante bleibt natürlich das Theaterprogramm in den Spielstätten des Staatstheaters mit diversen Perspektiven auf Themen, die uns als Gesellschaft polarisieren. Die eingeladenen Künstler*innen fragen, wie wir uns zu einer Welt verhalten, die nicht alle mitdenkt – und behaupten darin ihren Platz. Sie finden ihre eigenen Antworten, und noch mehr Fragen: Luanda Casella zum Beispiel lässt ihre in eine unterhaltsame Quizshow fließen, die Vorurteile entlarvt. Lola Arias befragt hannoversche Senior*innen und Pflegekräfte zu alltäglicher Isolation und ihren Visionen für die Zukunft. Simone Dede Ayivi schaut in die Küchen migrantischer Familien und fragt nach Geschichten über Essen und Heimat. Und Manuela Infante fragt sich, was wir von Steinen lernen können, die unbeeindruckt vom Lauf der Zeit ihren stillen Widerstand leisten. Aus diesen Fragen entwickeln die Künstler*innen unterschiedliche Strategien, sich den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen zu widersetzen. Noëmi Lakmaier testet das Beharrungsvermögen ihres Körpers und lädt zu einem Moment der Begegnung inmitten eines Sandsturms. Michael Turinsky verweigert mit seinem behinderten Körper normative Vorstellungen von Bewegung und Mobilität. Raquel Meseguer entdeckt im kollektiven Ausruhen einen Akt des Widerstands. Alice Ripoll bringt eimerweise Wasser auf die Bühne, um Kategorien von Zuschreibungen zu verflüssigen. Simone Aughterlony und Julia Häusermann testen die Grenzen von Spiel und Risiko in einer zerbrechlicher werdenden Welt. Mira Hamdi kämpft mit vollem sprachlichem und körperlichem Einsatz gegen Diskriminierung. Samaa Wakeem setzt dem permanenten Angstzustand in einem Konfliktgebiet ihr Recht auf Freiheit entgegen. Und Florentina Holzinger verweigert den voyeuristischen Blick auf ihr generationsübergreifendes feministisches Ensemble, das klassisches Ballett auf spektakuläre Stunts treffen lässt.
Unter dem Titel „We are in this together, but we are not the same” laden wir Sie auf die Raschplatzhochstraße ein, um von oben einen neuen Blick darauf zu werfen, wie wir in dieser Stadt zusammenleben. Dort entsteht für die Dauer des Festivals ein Ort des Experimentierens, Nachdenkens und Ausprobierens zum Thema Klimagerechtigkeit. Die Klimakrise betrifft alle, aber sie betrifft nicht alle gleich. Und sie wird auch nicht von allen in gleichem Maß verursacht. Deswegen ist Klimagerechtigkeit eine der zentralen Herausforderungen unserer Zeit. Im Zentrum stehen dabei Perspektiven, von denen wir eher selten hören, aber viel lernen können: Künstler*innen mit Behinderung teilen ihre Erfahrungen mit der Anpassung an Veränderungen und dem Haushalten mit begrenzten Ressourcen. Indigene Künstler*innen haben widerständige Strategien entwickelt, um auch dem Ende einer Welt wie sie sie kannten zu überleben. Gleichzeitig wird dieses Stadtlabor von über 30 Initiativen aus Hannover mitgestaltet, die sich für ökologische, politische und soziale Themen engagieren.
Der Cityring mit der Raschplatzhochstraße steht symbolisch für die autogerechte Stadt. Dieser in Beton gegossenen Zukunftsvision der Vergangenheit wollen wir viele Zukunftsvisionen der verschiedenen Menschen dieser Stadt entgegensetzen. Eine architektonische Intervention des Stadtmacher*innen-Kollektivs endboss öffnet dort einen Möglichkeitsraum. So ein großes Projekt im öffentlichen Raum gab es bisher bei Theaterformen nicht. Ich finde, es ist Zeit, dass sich die Kunst mit ihren eigenen Mitteln einmischt und Räume öffnet für Fiktionen und Spekulationen im Realen.
Ich lade Sie herzlich ein, gemeinsam mit uns die Perspektive zu wechseln.
Anna Mülter