von Luz Emilia Aguilar Zinser
Mit Mare Nostrum kommt eine mexikanisch-kolumbianische Inszenierung der Regisseurin Laura Uribe nach Hannover. Luz Emilia Aguilar Zinser, Theaterkritikerin und -wissenschaftlerin, gibt mit ihrem Magazin-Beitrag Einblicke in die jüngere Geschichte ihrer Heimat und des Theaters.
Geopolitik und Gewalt
Die Situation in Kolumbien und Mexiko Weltweit sind derzeit mehr als 66 Millionen Menschen Opfer gewaltsamer Vertreibung durch Krieg, Enteignung, organisierte Kriminalität und andere Formen von Gewalt. Unter ihnen sind rund 22 Millionen Geflüchtete und elf Millionen Staatenlose. Nach Daten des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) vom Februar 2017 ist Syrien das Land mit den meisten Vertriebenen durch bewaffnete Konflikte, gefolgt von Kolumbien, das gleichzeitig das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen ist. Nationale und internationale wirtschaftliche Interessen begründeten bereits vor 70 Jahren den Ursprung der gegenwärtigen Gewalt in Kolumbien; das politische Leben des Landes sollte kontrolliert und Land und Rohstoffe ausgebeutet werden. Dabei ist die Einmischung der USA umfassend belegt. Die Gewalt in Kolumbien geht von systematischen Übergriffen der Armee, der Polizei, paramilitärischer Truppen, des organisierten Verbrechens und der Guerilla auf die unbewaffnete zivile ländliche Bevölkerung aus, die gefoltert und auf schlimmste Weise misshandelt wird.
Mexiko war im 20. Jahrhundert ausgesprochen stabil und konnte Geflüchtete aus Europa und Lateinamerika, die ihre Länder verlassen mussten, um Krieg und Faschismus zu überleben, Asyl und eine Zukunft bieten. Dieser Frieden gestaltete sich jedoch nicht ohne punktuelle Gewalt des Staates gegen Minderheiten, er ging Hand in Hand mit Ungleichheit, Not und mangelnder politischer Teilhabe. Seit Jahrzehnten sind Millionen von Menschen von Mexiko in die USA abgewandert. Über die Südgrenze kamen ebenfalls Millionen von Zentralamerikanern, in der Hoffnung, über mexikanisches Territorium in die USA zu gelangen. Als Präsident Felipe Calderón 2006 seine Amtszeit antrat, erklärte er dem Drogenhandel den Krieg. Doch statt für weniger Straftaten zu sorgen, verursachte er einen Anstieg des Drogenhandels; Schnellfeuerwaffen kamen in Massen aus den USA nach Mexiko und das Land verlor zunehmend an Souveränität. Der Schrecken nistete sich im Alltag ein und, wie bereits in Kolumbien, verbreitete sich das düstere Bild von zerstückelten Körpern, Folter und zur Schau gestelltem Blut. Es hat nie eine offizielle und systematische Erfassung der Gewaltverbrechen gegeben, die in Mexiko während des Drogenkriegs verübt wurden. Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaftler_innen gehen mittlerweile von 300 000 Toten aus und rechnen mit 60 000 Vermissten, die während der letzten zehn Jahre in Mexiko „verschwunden“ sind.
Die neue Generation im mexikanischen Theater
In den Fünfziger-, Sechziger- und Siebziger-Jahren des letzten Jahrhunderts erlebte das mexikanische Theater goldene Zeiten. Eine Hand voll Regisseur_ innen erforschte mit viel Talent und Mut die Möglichkeiten der Inszenierung. Herausragende Namen aus jener Zeit sind Héctor Mendoza, Juan José Gurrola, José Luis Ibáñez, Luis de Tavira, Ludwik Margules und Julio Castillo. Die meisten Theaterschaffenden traten damals einen Kampf gegen sexuelle Vorurteile an. Sie bestanden auf Nacktheit und Erotik, einige wagten ein Theater aktiver politischer Subversion. Im Laufe der Jahre setzte sich jedoch eine selbstbezogene Theaterpraxis durch. Das Theater stand nur noch im Dialog mit sich selbst und seinen Traditionen und versuchte zugleich, das Publikum mit leichten Stücken anzulocken. Mit dem Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert veränderte sich die mexikanische Theaterszene. Eine neue Generation tauchte auf, der daran lag, ihr Theater der jüngeren Geschichte zu widmen und von ihrer Warte aus die politische, wirtschaftliche und soziale Realität des Landes mit größerem Nachdruck als ihre Lehrmeister aufzuwühlen. Derzeit drängen neue Stimmen aus den Theaterschulen. Zu ihnen gehören das Teatro de Ciertos Habitantes, Línea de Sombra, Alberto Villareal, die Lagartijas Tiradas al Sol, Vaca 45, David Gaitán, Ángel Hernández, Mariana Gándara, Diego Álvarez Robledo, Mariana Villegas und Laura Uribe. Ihre Stücke werden bestimmt vom Einsatz verschiedener Medien, von biografischem Theater, Dokumentartheater und dem Nachdenken über verschiedene Formen von Gewalt.
Die Zwangslage der gewaltsam Vertriebenen – nicht nur in Lateinamerika, sondern auf der ganzen Welt – erlebt mit der Machtübernahme durch Donald Trump einen Paradigmenwechsel. Im Licht seiner Reden und Taten erscheint die Zukunft beängstigend; Lateinamerika steht vor einer großen Herausforderung, wenn es Millionen von abgeschobenen Migrant_innen aus den USA aufnehmen soll – einer Nation, die plötzlich vom Vorreiter der Globalisierung zu einem Land wird, das Mauern baut. Eine mögliche Antwort auf diese neue Realität sind Gelegenheiten zur Zusammenarbeit, wie es durch das Gastspiel Mare Nostrum in Deutschland geschieht: Lateinamerikanische Künstler_innen aus zwei Nationen treten in einen Dialog mit dem europäischen Publikum, zu einem drängenden Thema, das uns alle angeht.
Mare Nostrum läuft am 13. und 14. Juni im Schauspielhaus.
Laura Uribe
studierte an der Theatre School of Mexico. Bekannt wurde sie mit der Gründung der Gruppe Teatro en Código (Kodiertes Theater). „Mare Nostrum“ basiert auf Texten der kolumbianischen Schauspieler_innen Marisol Álvarez, Tata Castañeda, Emanuel M. Madrigal und Manuela Paniagua und ist inspiriert von dem Stück der spanischen Dramatikerin und Performerin Angélica Liddell „Und die Fische zogen aus, um gegen die Menschheit zu kämpfen“. Foto: Laura Uribe
Luz Emilia Aguilar Zinser
ist Theaterkritikerin und -wissenschaftlerin, mit dem Forschungsschwerpunkt „Zeitgenössisches Theater im politischen und sozialen Kontext“. Sie studierte dramatische Literatur und Theater an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM). Zinser ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat des Ingmar-Bergman-Lehrstuhls der UNAM und der Zeitschrift Paso de Gato. Foto: Matias Camarena
Aus dem Spanischen übersetzt von Bochert Translations (Franziska Muche)