Über uns

Leitlinie

Grundverständnis

Das Festival Theaterformen ist ein internationales Theater- und Tanzfestival, das sich gleichzeitig in Braunschweig und Hannover als lokal verortet versteht. Unser Ziel ist es, Perspektiven Raum zu geben, die im lokalen Kontext seltener sichtbar und hörbar sind und die existierende Machtverhältnisse hinterfragen. Diese neuformulierte Leitlinie knüpft an eine erste Version an, die das Team um die künstlerische Leiterin Martine Dennewald im Rahmen eines diskriminierungskritischen Reflexionsprozesses in den Jahren 2018 und 2019 erarbeitet hat. Diese erste Version der Leitlinie finden Sie hier.
Das neu konstituierte Team um die künstlerische Leitung Anna Mülter fühlt sich dieser Selbstpositionierung und Arbeitsweise ebenfalls verpflichtet und wird diese Leitlinie jährlich diskutieren und gegebenenfalls aktualisieren.

In dieser Leitlinie wollen wir transparent darstellen, wozu wir uns verpflichten, was wir uns vorgenommen haben und wo die Grenzen unserer machtkritischen Arbeit liegen. Wir übernehmen Verantwortung für die Arbeit des Theaterformen-Teams und tragen Sorge dafür, alle Mitarbeiter*innen durch Schulungen zu machtkritischem Handeln zu befähigen. Gleichzeitig ist das Festival Teil der Staatstheater Hannover und Braunschweig und arbeitet mit deren Personal zusammen, das nicht in unseren Prozess der machtkritischen Reflexion einbezogen werden kann.

Als Festival des globalen Nordens und als von der öffentlichen Hand gefördertes Festival, wollen wir unsere Privilegien und Ressourcen teilen. Wir wollen nachhaltig in Kooperationen mit der Stadtgesellschaft und mit den Künstler*innen zusammenarbeiten. Wir arbeiten daran, Barrieren und Diskriminierungen auf der individuellen, institutionellen und strukturellen Ebene und in ihren intersektionalen Verschränkungen zu erkennen, und unternehmen konkrete Schritte, um diese abzubauen.

Diese machtkritische Arbeit ist die Voraussetzung dafür, dass das Festival für elf Tage einen Ort ermöglicht, an dem andere Formen des Zusammenlebens imaginiert werden und der utopische Versuch unternommen werden kann, diese in eine gelebte Praxis zu übertragen.

Festivalstruktur

Unsere Struktur bedingt, dass wir fokussiert auf das elftägige Festival im Sommer hinarbeiten und sich die Größe des Teams regelmäßig verändert: Während die Stellen der Abteilungsleitungen und die Mitarbeit der künstlerischen Leitung ganzjährig besetzt sind, werden weitere Mitarbeits- und Assistenzstellen zu jeder Festivalausgabe neu vergeben und sind teilweise halbjährig, monats- oder wochenweise besetzt. Gelegentliche Fluktuation auf den festen Stellen sind auch Teil des Theaterbetriebs. Dies führt dazu, dass bei jedem Festival ein neues Team zusammenkommt.     

Da das Festival in zwei Städten im jährlichen Wechsel stattfindet, sind wir mit einer Vielzahl von Kooperationspartner*innen, Initiativen und Institutionen in Kontakt und können uns mit zwei lebendigen Stadtgesellschaften verknüpfen. Für eine nachhaltige Zusammenarbeit stellt dies aber auch eine Herausforderung dar. Kollaborationen gehen wir dialogisch und langfristig ein, der Kontinuität sind aber durch den Wechsel der Städte Grenzen gesetzt. 

Zusammenarbeit im Team

Wir streben danach, unsere Leitlinie auch Mitarbeiter*innen mit kurzfristiger Beschäftigung nahezubringen, so ist sie grundsätzlich Bestandteil unserer Stellenausschreibungen und auch Gesprächsthema in den Bewerbungsgesprächen und der Einarbeitung. Die kritische Reflexion von Arbeitsstrukturen ist eine gemeinsame Praxis. Das Kernteam des Festivals kommt regelmäßig in Awareness-Sitzungen zusammen, um aktuelle Herausforderungen oder Erfahrungen zu besprechen und auszuwerten.

Es wurden bereits Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in den Büros umgesetzt. Auch mobiles Arbeiten ist in Absprache mit der jeweiligen Abteilungsleitung und der Festivalleitung grundsätzlich möglich. Weitere Bedarfe in Bezug auf Barrierefreiheit und Arbeitssituation können jederzeit geäußert werden und werden im Rahmen der Möglichkeiten umgesetzt.                      

Programmgestaltung

Die Auswahl und Gestaltung des Festivalprogramms hat einen barrierearmen und machtkritischen Ansatz: Eines der langfristigen Ziele des Programms ist es, Themen und Stücke von Künstler*innen in den Fokus zu setzen, die (mehrfach) marginalisiert sind oder sich mit Diskriminierungen auseinandersetzen, ebenso sollen diese Künstler*innen und Kompanien in ihrer Sichtbarkeit gestärkt werden. Die Auswahl der eingeladenen Produktionen untersteht einem kuratorischen Prinzip, daher bedeutet die Auswahl zugleich den Ausschluss von anderen Künstler*innen und Produktionen.

Zusätzlich werden entsprechende Vermittlungsprogramme geschaffen, die empowernde kulturelle Erfahrungen für Menschen ermöglichen, die von Diskriminierung betroffen sind und das Theater bisher nicht oder nur selten als ihren Ort erfahren konnten. Gleichzeitig erfährt auch ein breites Theaterpublikum mehr von Perspektiven, die vielleicht nicht die eigenen sind und die gerade im Theater zu selten gesehen und gehört werden.

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit

Die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit arbeitet an zugänglichen Formen der Kommunikation, dazu gehört auch die Entwicklung und Umsetzung einer barrierearmen Festival-Website. In allen Publikationen (sowohl in Print als auch digital) wird eine diskriminierungskritische, verständliche und zugängliche Sprache angestrebt, die ein vielfältiges Publikum ansprechen und erreichen soll.

Dazu gehört bei jeder Festivalausgabe die Kontaktaufnahme mit lokalen Initiativen und Institutionen mit dem Ziel der langfristigen Vernetzung. Die Bewerbung des Festivalprogramms beruht auf Ganzheitlichkeit – alle Produktionen sollen in gleicher Weise beworben werden. Dennoch kann, beispielsweise bei der Auswahl von Plakatmotiven, auf eine direkte Bewerbung einzelner Produktionen nicht immer verzichtet werden.

Geschäftsführung, Produktion und Technik 

Die Geschäftsführung, die Produktionsabteilung und die technischen Abteilungen stehen ab Beginn der Planungen in engem Kontakt mit den Künstler*innen und Kompanien. Die Mitarbeiter*innen sind sich ihrer Verantwortung bewusst, sensibel zu sein für die Situation und den Kontext der zum Festival eingeladenen Künstler*innen. Gewaltarme Kommunikation, die Möglichkeiten diskriminierungsarmer Räume und gleichwertige Rahmenbedingungen werden innerhalb von herrschendem Zeit- und Finanzdruck sowie innerhalb der strukturellen Gegebenheiten und ihren Defiziten angestrebt.

Dimensionen von Awareness & Accountability

Das Festival Theaterformen verpflichtet sich zu einer regelmäßigen Selbstüberprüfung hinsichtlich der Leitlinie und der eigenen diskriminierungskritischen Arbeit. Hierfür trifft sich das Kernteam aus künstlerischer Leitung, Mitarbeit der künstlerischen Leitung, Geschäftsführung, Produktionsleitung und Leitung der Presse und Öffentlichkeitsarbeit in einer monatlich stattfindenden Awareness-Sitzung. Dies ist ein geschützter Raum für interne Reflexion und Austausch. Vereinbarungen aus den Sitzungen werden von den jeweiligen Leitungspositionen in die Abteilungen getragen.

Bisher hat das Kernteam an Sensibilisierungsworkshops zum Thema Ableismuskritik und Barrierefreiheit, interkulturelle Awareness in Bezug auf Indigene Communities in Brasilien und Audismus/Diskriminierung von Tauben Menschen teilgenommen. Weitere diskriminierungskritische Fortbildungen werden regelmäßig angeboten. Neuen Teammitgliedern, die das Kernteam vor und während des Festivals unterstützen, werden Workshops zum Thema Ableismuskritik und Barrierefreiheit sowie Antidiskriminierung und Machtkritik zu verschiedenen Zeitpunkten angeboten.

Das Festival Theaterformen wird von der selbständigen Diversitätsentwicklerin und Awareness-Expertin Michelle Bray aus differenzsensibler, macht- und diskriminierungskritischer Perspektive begleitet. Sie steht als externe Ansprechpartnerin für Diskriminierungssituationen, Fragen zu Awareness, Coaching und Empowerment allen Mitarbeitenden ganzjährig und den eingeladenen Künstler*innen während des Festivals zur Verfügung.

Awareness-Team während des Festivals 

Um aktiv Betroffene von Diskriminierung, Gewalt und Grenzverletzungen während des Festivals zu unterstützen, begleitet ein Awareness-Team jede Festivaledition. Da Awareness-Arbeit bei Theaterfestivals in Deutschland noch eine Ausnahme ist, sind wir auf das Lernen aus unseren eigenen Erfahrungen angewiesen. Das Konzept des Awareness-Teams wurde von Michelle Bray in Absprache mit der künstlerischen Leitung erarbeitet und wird jedes Jahr auf Basis der evaluierten Erfahrungen weiterentwickelt.

Konsequenzen

Wenn es zu einer diskriminierenden oder grenzüberschreitenden Situation kommt und eine Person aus dem Festivalteam Auslöser*in dieser Situation ist, können nach Gesprächsaufnahme seitens künstlerischer Leitung und Geschäftsführung Bedingungen für eine Wiederbeschäftigung an diese Person herangetragen werden. Darunter fällt zum Beispiel die Teilnahme an einem Sensibilisierungsworkshop. Gleichzeitig wird der betroffenen Person ein Angebot gemacht, empowernde Maßnahmen in Anspruch zu nehmen. Die Aktivitäten im Rahmen der Verarbeitung und des Empowerments können in der Arbeitszeit getätigt werden und werden im Rahmen eines festgelegten Budgets übernommen.

Möglichkeiten der Kontaktaufnahme

Sollten Sie im Rahmen des Festivals oder der Zusammenarbeit mit dem Festival Theaterformen im Allgemeinen Grenzüberschreitungen und diskriminierende Situationen erfahren oder (mit) erleben, steht die Festivalleitung (künstlerische Leitung und Geschäftsführung) jederzeit als Ansprechpartner*in zur Verfügung via Mail an Malte Wegner Soller, Geschäftsführung:wegner@theaterformen.de

Stand: Juni 2022

Barrierefreiheit

Seit der Ausgabe 2021 will das Festival Theaterformen barriereärmer werden – ein Vorhaben, das eigentlich gar nicht erwähnenswert sein sollte, sondern selbstverständlich. Da es sich aber für den Großteil des Publikums um neue Angebote handelt, möchten wir unsere Pläne kurz vorstellen. 

Von Herbst 2020 bis 2022 berieten uns die behinderten Expert*innen Noa Winter und Sophia Neises. Diese Prozessbegleitung fand in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover und dem Staatstheater Braunschweig statt. Winter und Neises haben Sensibilisierungsworkshops zu Ableismuskritik** und Barrierefreiheit für unsere Teams sowie für das Kassen- und Einlasspersonal gegeben und unsere Spielstätten in Hannover und Braunschweig einer umfassenden baulichen Bestandsaufnahme unterzogen. Daraus ist ein internes Handbuch entstanden, welches nicht nur den Ist-Zustand detailliert dokumentiert, sondern auch kurzfristige und langfristige Verbesserungsmöglichkeiten für die Zukunft skizziert, die wir zusammen mit den Staatstheatern angehen. Für die Festivalausgabe 2023 hat uns Xenia Dürr zum Thema Audismuskritik** beraten und hat mit diesem Schwerpunkt Sensibilisierungsworkshops gegeben. Seit 2024 berät uns Alina Buschmann zu den Themen Inklusion, Barrierefreiheit und Antidiskriminierung.

Ein Ergebnis des Abbaus von Barrieren ist unsere barrierearme Webseite, die ausführliche Informationen zu den Spielstätten enthält, wie zum Beispiel die Maße der Aufzüge und Türen, den Zugang zu barrierefreien Toiletten sowie Hinweise zu sensorischen Reizen, Content Notes und Anforderungen an das Publikum bei den einzelnen Stücken. Informationen zum Festival und zum Programm werden seit 2021 auch in Deutscher Gebärdensprache zur Verfügung gestellt. Für die Festivalausgabe 2024 werden erstmals Informationen zum Festival und zu ausgewählten Vorstellungen in Leichter Sprache zur Verfügung gestellt.

Zudem entwickeln wir Angebote für Zuschauer*innen mit verschiedenen Behinderungen und Bedarfen: So bieten wir für ausgewählte Vorstellungen Audiodeskription mit Tastführungen an, um das Festival auch für blindes und sehbehindertes Publikum zugänglich zu machen. Für vereinzelte Veranstaltungen bieten wir Verdolmetschung in Deutsche Gebärdensprache für Taube*** Personen an sowie Verdolmetschung in Deutsche Lautsprache bei Vorstellungen von Tauben Künstler*innen. Zusätzlich gibt es Relaxed Performances, um den Theaterbesuch auch neurodivergenten Zuschauer*innen (zum Beispiel Autist*innen) zu ermöglichen, die von der üblichen Theateretikette in Aufführungsräumen (Stillsitzen in der Dunkelheit, sich leise verhalten) oft ausgeschlossen werden. 
In allen Spielstätten gibt es Sitzsäcke als alternative Sitzmöglichkeiten (zum Beispiel für Zuschauer*innen mit chronischen Schmerzen), die ebenso wie die Rollstuhlplätze einfach über den Ticketshop der Staatstheater gebucht werden können. Rollstuhlplätze versuchen wir in den vorderen Sitzbereichen anzubieten.

Wir sind uns bewusst darüber, dass wir im Moment noch keine Angebote für alle Barrierefreiheitsbedarfe anbieten können. Dies ist erst der Anfang eines langfristigen Prozesses. Wir laden Sie ein, diesen Weg gemeinsam mit uns zu gehen!


* Ableismus bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden.
Weitere Informationen über den folgenden Link: Diversity Arts Culture

Weitere Informationen in Leichter Sprache über folgenden Link:Diversity Arts Culture

** Audismus bedeutet, dass Taube Menschen ausgegrenzt oder ausgeschlossen werden.
Weitere Informationen über den folgenden Link: Diversity Arts Culture

*** Taub ist eine positive Selbstbezeichnung nicht hörender Menschen, unabhängig davon, ob sie Taub, resthörig oder schwerhörig sind. Weitere Informationen über den folgenden Link: Diversity Arts Culture 

Historie

Festival Theaterformen

Das Festival Theaterformen ist eines der größten Festivals für internationales Theater in Deutschland. Veranstaltet von den Staatstheatern Hannover und Braunschweig, wird es finanziert vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur, durch die seit 2007 jährlich wechselnden Gastgeberstädte Braunschweig und Hannover sowie die Stiftung Niedersachsen und die Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz.

1990 in Braunschweig gegründet, bildet das Festival die Vielfalt zeitgenössischer Theaterformen ab: Klassikerinszenierungen, neue Dramatik, experimentelle Formate, Performances, szenische Installationen und Projekte, die den Bühnenraum verlassen und den städtischen Raum einbeziehen, gehören zum elftägigen Programm am Ende der Staatstheater-Spielzeiten.

1990 bis 2004: Gründungsjahre und bewegte Geschichte

Der Fall der Mauer war nicht eingeplant bei der Gründung des Festivals Theaterformen. Vielmehr war die Tatsache, dass Braunschweig, Stadt der Wissenschaft und Wirtschaft, kulturell im Schatten der Mauer lag, einer der Gründe für die Entstehung des Festivals. Dass Braunschweig dann bei der ersten Festivalausgabe im Jahr 1990 mitten in Deutschland lag, war nicht vorauszusehen. Bernd Kauffmann, damals Generalsekretär der Stiftung Niedersachsen, hatte sich vorgenommen, die Region mit Unterstützung einer Unternehmerinitiative, Mitteln der Zonenrandgebietsförderung und Stiftungsgeldern kulturell voranzubringen: Großes Regietheater und verschiedene Formen des Theaters sollten im Zentrum eines Theaterfestivals stehen. Peter Ries, künstlerischer Leiter des Festivals, hatte den heute noch gültigen Namen für das Festival Theaterformen erfunden.

Für die Umsetzung luden Ries und Kauffmann internationale Regiestars wie Peter Brook und Peter Stein, George Tabori und Andrzej Wajda ein. Und so widmeten sich die ersten beiden Ausgaben des Festivals der Auseinandersetzung mit Shakespeare (1990) und Lessing (1991).

Kurz vor der dritten Festivaledition geschah im April 1995 ein folgenschwerer Unfall im Staatstheater Braunschweig: Der eiserne Vorhang krachte aus neun Metern Höhe mit voller Wucht auf die Bühne, die einen Vollschaden erlitt. Nach anfänglicher Hoffnung, das Haus bis zum Festivalstart im Juni wieder bespielbar zu machen, versagte die Versicherung jedoch die Freigabe. „Platzt das Theaterereignis des Jahres“? fragte die Hannoversche Allgemeine Zeitung. Dem Festival drohe „ein organisatorisches und finanzielles Fiasko“, da die große Bühne des Staatstheaters Braunschweig, auf der mit Pandurs Göttlicher Komödie und dem südafrikanischen Mama! zwei große Produktionen stattfinden sollten, „voraussichtlich erst im August wieder für den Spielbetrieb zur Verfügung stehen werde“. Mit der hannoverschen U-Boot-Halle der Hanomag konnte jedoch, neben Spielorten in Wolfenbüttel und Braunschweig, eine geeignete Location gefunden werden. Ein Teil des Festivals Theaterformen fand somit erstmalig 1995 in Hannover statt.

1998 fand das Festival zu seinem biennalen Rhythmus, im Zuge der sich anbahnenden EXPO wurde Hannover im selben Jahr neben Braunschweig zweite Festivalstadt. Die künstlerische Leiterin Marie Zimmermann engagierte sich 1998 und 2000 besonders für das Aufspüren junger Talente und – mit der internationalen Theaterakademie – auch für die Förderung des künstlerischen Nachwuchses. Ab 2002 öffnete Veronica Kaup-Hasler das Festival zu anderen Sparten, legte ein Diskursprogramm auf und setzte mit der Roten Treppe vor dem Staatstheater Braunschweig ein temporäres architektonisches Zeichen.

Nach der Ausgabe 2004 lief die Förderung für das Festival aus. Die Städte Hannover und Braunschweig sowie die Intendanten der jeweiligen Theater, Wilfried Schulz und Wolfgang Gropper, setzten sich für seine Weiterführung ein. Nachdem die Stadt Braunschweig angeboten hatte, ihren Förderanteil im Verhältnis zu vorangegangen Jahren zu verdreifachen, stieg auch das Land als Förderer wieder ein.

2007 und 2008: Wiederbelebungsjahre mit Publikumsrekord

Die erste Ausgabe nach der Neugründung verantwortete 2007 Stefan Schmidtke. Als künstlerischer Leiter zeigte Schmidtke Theaterprojekte an besonderen Orten der Stadt, bezog die örtliche Kunst-, Kultur- und Bürger*innen-Szene mit ein und veranstaltete verschiedene Projekte, die er in einer Theaterwerkstatt bündelte. Sein erstes Festival endete in Hannover mit einem Publikumsrekord. Im Mittelpunkt der darauffolgenden Braunschweiger Ausgabe sollte eines der ältesten europäischen Theaterstücke stehen: Für Die Perser von Aischylos, inszeniert von Claudia Bosse, suchten Schmidtke und Team rund 500 Mitwirkende. Eingeteilt in Gruppen, erhielten die Beteiligten Braunschweiger*innen Stimm- und Körpertraining und probten über viele Wochen bis zur Aufführung dieses Ausnahmeprojekts.

Nach der erfolgreichen Wiederbelebung des Festivals in den Jahren 2007 und 2008 durch Stefan Schmidtke übernahm Anja Dirks die künstlerische Leitung.

2009 bis 2014

Bis 2014 verantwortete Anja Dirks sechs Festivalausgaben – drei in Hannover, drei in Braunschweig. Neben dem Anspruch, eine Vielzahl verschiedener internationaler Theaterformen zu präsentieren, treten zwei konzeptuelle Ansätze ihres kuratorischen Arbeitens besonders hervor: der Einbezug der Stadt als erweiterter Spielort mit den Fragen nach Teilhabe, Ausgrenzung, Identität und Gemeinschaft (z.B. „Du bist die Stadt“ in 2012 unter anderem mit 100 Prozent Braunschweig von Rimini Protokoll im Großen Haus und Stücken, die auf dem Burgplatz, dem Städtischen Museum und auf dem Bohlweg nebst Publikum im Schaufenster eines Ladenlokals gezeigt wurden) und die Auseinandersetzung mit postkolonialem Theater. Mit dem von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Schwerpunkt „Presence of the Colonial Past“ vereinte Dirks bereits im Jubiläumsjahr 2010 Theaterarbeiten von Brett Bailey, Boyzie Cekwana und Faustin Linyekula, ein Diskurswochenende und eine Filmreihe. Knapp drei Jahre später gründete Anja Dirks 2013 mit einer Reihe internationaler Kolleg*innen das Netzwerk „Shared Spaces“ mit der Absicht, globalen Kulturaustausch zu fördern. Das erste Netzwerkpartnertreffen fand in Kinshasa statt – möglich durch die Unterstützung der Kulturstiftung des Bundes, die darüber hinaus die Kooperation des Festivals Connexion Kin mit dem Festival Theaterformen förderte. Aus der Zusammenarbeit waren mehrere koproduzierte Theaterstücke hervorgegangen, die zunächst in Kinshasa und anschließend in Hannover im Rahmen des Schwerpunkts Kinshasa Connection präsentiert wurden. Diskussionsveranstaltungen und die Akademie der internationalen Festivalstipendiat*innen waren darüber hinaus Bestandteile der Festivalausgabe 2013. Mit dem Ende des Festivals im Sommer 2014 verabschiedete sich Anja Dirks als künstlerische Leiterin.

2015 bis 2020 

Seit September 2014 leitet Martine Dennewald das Festival Theaterformen. Zu ihrer ersten Ausgabe im Jubiläumsjahr 2015 sprach sie unter anderem Einladungen an Rimini Protokoll, Tiago Rodrigues, Xavier Le Roy und 600 Highwaymen aus, von denen sie jeweils zwei Produktionen zeigte. Mit dem kuratorischen Konzept der Doppeleinladungen hatte das Publikum die Möglichkeit, künstlerische Handschriften noch besser kennen zu lernen. Klar umrissene inhaltliche Setzungen fand Dennewald für jede weitere Edition: Nachdem das Festival 2016 in Braunschweig mit „Our Common Futures“ einen Fokus auf Gastspiele aus Ost- und Südostasien setzte, waren 2017 in Hannover ausschließlich Stücke von Regisseurinnen und Choreografinnen zu sehen – ein Versuch, eine strukturelle Ungleichheit nicht im Sinne einer Quote zu beheben, sondern in einer subversiven Geste gänzlich umzukehren. 2018 widmete sich das Festival den Aus- und Nachwirkungen des Kolonialismus aus verschiedenen Perspektiven. 2019 reisten dann rund die Hälfte der eingeladenen Regisseur*innen aus aller Welt mit Projektideen, Textvorlagen, einem Interesse an Hannover und seinen Menschen bereits Monate im Vorfeld an, um zu recherchieren und zu proben. Lebensgeschichten von rund 200 Bürger*innen aus Niedersachsen flossen in die Theaterarbeiten ein. Zu ihnen gehörten u. a. die Uraufführungen Die Geschwindigkeit des Lichts des argentinischen Künstlers Marco Canale, der Geschichten von rund 100 Mitwirkenden verschiedener Herkunft zu einer gemeinsamen deutschen Biografie inszenierte, und das dokumentarische Theaterstück My Body Belongs to Me von Ruud Gielens und Laila Soliman, welches sie mit einer in Niedersachsen ansässigen Gruppe sudanesischer Frauen entwickelten.

Dennewalds kuratorisches Arbeiten ist nicht zu trennen von ihrer Auseinandersetzung mit Postkolonialismus und diskriminierungskritischer Arbeit. In den Jahren 2018 und 2019 durchlief das Theaterformen-Team eine fünfteilige, von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Fortbildung. Die Arbeit mit dem Institut für diskriminierungsfreie Bildung I IDB beinhaltete die Reflexion der Arbeitsprozesse innerhalb der Institution als auch eine Analyse der Öffentlichkeitsarbeit, den Umgang mit Diskriminierung in der Festivalarbeit und eine Formulierung möglicher antirassistischer Strategien für die Zukunft. Monatliche Awareness-Sitzungen, eine neue Einstellungspolitik, eine diskriminierungskritische Leitlinie, die Zusammenarbeit mit anderen Institutionen, die Bestellung externer Berater*innen für produktionsbezogenes Feedback und Fortbildungsmöglichkeiten sind nur einige Beispiele für die aus der Prozessbegleitung hervorgegangenen internen Veränderungen.

Die Jubiläumsausgabe 2020 war die letzte von Martine Dennewald kuratierte. Auf sie folgte im Herbst 2020 Anna Mülter, die ihr erstes Festival Theaterformen im Sommer 2021 in Hannover präsentierte.