Presseschau 2018
Die Frage nach globalen Machtverhältnissen und ihre Auswirkungen auf individuelle Biographien zog sich wie ein roter Faden durch unser Programm 2018, das in vielfältigen künstlerischen Formaten gezeigt hat, wie Lebenssituationen weltweit voneinander abhängen und dass Europa in der Verantwortung steht, sich mit seinem kolonialen Erbe auseinander zu setzen. Auf dieser Basis fußten unsere Pressearbeit und der Versuch, das kuratorische Konzept zu beschreiben und Themen zu bündeln, ohne dabei Klischees zu bedienen, die sich über den afrikanischen Kontinent – der viel zu groß ist, um über einen regionalen Schwerpunkt sprechen zu können – hartnäckig halten.
Dass ein gelungener Theaterbesuch häufig auch ein soziales Erlebnis ist, zeigt sich daran, dass die Theaterstücke nachwirken, Gefühle und Gedanken anregen und Fragen aufwerfen, die über die Vorstellung hinauswirken und die geteilt und besprochen werden wollen. Die Theaterkritiken, die jedes Jahr in großer Zahl regional und überregional über das Festival Theaterformen erscheinen – 2018 waren es laut unseres Ausschnittdienstes Argus Data Insights 660 Clippings aus Print- und Onlinemedien, Nachrichtenagenturen und Hörfunk – sind ein wichtiger und nachhaltiger Bestandteil des Ereignisses Festival. Beschreibend, bewertend, einordnend und kritisch nehmen sie das temporäre Geschehen und die Stücke unter die Lupe und geben – noch über die Festivalzeit hinaus – Anlass zur Diskussion. Die hier aufgeführten Pressestimmen besprechen einzelne Stücke und das Festival als Ganzes.
Auszüge aus deutschen Medien von April bis September 2018
Martin Jasper und Sara Haase von der Braunschweiger Zeitung betrachten das Programm unter dem Aspekt der guten Laune: Afrikanische Akzente titeln sie am 12. April 2018 anlässlich unserer Pressekonferenz. Weiter im Artikel heißt es: Vorsicht, Leute. Allzu spaßig wird's nicht zugehen Anfang Juni in dieser Stadt. Da fallen radioaktiv verseuchte Kängurus vom Himmel. Da wird im Radio zum Völkermord in Ruanda aufgerufen. Ein afrikanischer Despot organisiert einen Staatsstreich gegen sich selbst – mit desaströsen Folgen. Wer nicht aufpasst, dessen Geld verdampft im Bankrott eines Staates. Wer mag, kann sich mit Seife aus Menschenfett von der eigenen Schuld reinwaschen. Wer sich in einen Verschlag wagt, muss quälende Fragen zum Rassismus beantworten. Sara Haase und Martin Jasper, Braunschweiger Zeitung, 12. April 2018
Stefan Arndt, Hannoversche Allgemeine Zeitung, beginnt seinen Artikel anlässlich der Pressekonferenz mit einem Zitat Dennewalds: „Bei uns erzählt das Theater nicht nur Geschichten, [...] sondern auch Geschichte.“ Damit benennt die Leiterin des Festivals Theaterformen bei der Vorstellung des neuen Programms gleich im ersten Satz ein wesentliches Merkmal der diesjährigen Ausgabe: Die Produktionen [...] kommen aus zwölf Ländern und blicken zum Großteil aus ungewohnter Perspektive auf die Vergangenheit. Weiter unten heißt es im Artikel: Mit Blick auf das ganze Programm vermeidet es Martine Dennewald trotz der vielen Produktionen afrikanischer Theatermacher, von einem afrikanischen Schwerpunkt zu sprechen. Tatsächlich greifen auch andere Produktionen vergleichbare Probleme auf. Stefan Arndt, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 12. April 2018
Geschichten und Geschichte – Theaterformen thematisieren Kolonialismus, titelt Stefan Gohlisch wiederum in der Neuen Presse und artikuliert die inhaltlichen Schnittmengen der 17 Theaterstücke so: Die Theaterformen hatten immer schon die Kulturen der Welt im Fokus. Bei der diesjährigen Ausgabe [...], die im üblichen Turnus in Braunschweig stattfindet, thematisiert das Festival den weißen Blick selbst. [...] Kolonialismus und die langwierige Befreiung davon sind die bestimmenden Themen. Stefan Gohlisch, Neue Presse, 12. April 2018
Anlässlich des Eröffnungstages greift Stefan Gohlisch ein Zitat Dennewalds auf, das er durch das Programm als eingelöst betrachtet: „Migration [...] ist weltweit die Norm.“ In unserer Gesellschaft habe man vergessen, was es bedeutet auszuwandern. „Wir brauchen mehr als nur ein Wissen; wir brauchen ein Gefühl.“ Und dann eröffnet sie in Braunschweig jenes Festival, das dazu angetan ist, dieses Gefühl zu vermitteln: die Theaterformen. [...] Laut und leise, zart und provokant kann [es] sein, und der erste Festivaltag gab schon einmal einen guten Eindruck in die Vielfalt. Stefan Gohlisch, Neue Presse, 09. Juni 2018
Ronald Meyer-Arlt identifiziert die kuratorische Linie und schreibt über den ersten Festivaltag in der HAZ: Die britische Künstlerin Selina Thompson stellt [in Race Cards, Anm. d. Red.] Fragen. Fragen nach der Zugehörigkeit, nach der Hautfarbe, nach Zuschreibungen, die andere vornehmen. [...] Die Installation der 1000 Zettel ist eine schöne Hinführung zum Thema der 19. Ausgabe der Theaterformen, dieses erfolgreichen niedersächsischen Theaterfestivals, das in jährlichem Wechsel in Braunschweig und Hannover stattfindet. Die meisten Produktionen der neuen Ausgabe, die bis zum 17. Juni in Braunschweig über verschiedene Theaterbühnen geht, widmen sich den Folgen des Kolonialismus. Ronald Meyer-Arlt, Hannoversche Allgemeine Zeitung, 09. Juni 2018
Ein starker Jahrgang bahnt sich an: Das Festival Theaterformen in Braunschweig verhandelt globale Machtverhältnisse neu, untertitelt Patrick Wildermann vom Tagesspiegel aus Berlin seinen Artikel über das Festival. [...] Eine[...] Ausgabe, die sich den Themen Ausbeutung und Abhängigkeit sowie der Neuverhandlung globaler Machtverhältnisse verschrieben hat. Was programmatisch ein weites Feld öffnet, aber durchaus nicht in Beliebigkeit mündet. Patrick Wildermann, Tagesspiegel, 11. Juni 2018
Auf nachtkritik.de schreibt Jan Fischer über die von der Kulturstiftung des Bundes geförderten Produktionen der Künstler_innen Janeth Mulapha, Tito Adermini Ibitola, Kamogelo Molobye, Jade Bowers und Ogutu Muraya, dessen Arbeit Fractured Memories er folgendermaßen beschreibt: Aus dieser Fülle an Material entsteht auf eine fast beiläufige Weise ein fragmentierter, sprachlich versierter, mal persönlicher, mal historischer Essay der Geschichte der Kolonialisierung, speziell Kenias, und ihrer bis heute spürbaren Folgen. Beeindruckend sind diese Geschichten und die Geschichte, zu der sie zusammengesetzt werden, weil das alles sehr ruhig herübergebracht wird, sehr zurückgenommen, aber eine langsam brennende Wucht entfaltet. Hauptsächlich durch die klug zusammengeschnittenen Perspektiven, die historische Verflechtungen über fast hundert Jahre nachzeichnen – und die Folgen der Kolonialisierung für die Kultur der kolonialisierten Länder bis heute verdeutlichen.
Zusammenfassend schreibt Fischer: Gemein ist dabei allen Inszenierungen, dass sie so nur vor dem spezifischen Hintergrund bestimmter Länder funktionieren – weder "Fractured Memories" noch "Jungfrau" oder die "3x30"-Ergebnisse ließen sich ohne die spezielle Expertise und die spezielle Perspektive ihrer Macherinnen und Macher erzählen. Das ist zwar eine banale Erkenntnis – dennoch aber eine, die im Kern eines Festivals wie der Theaterformen liegt, das ja gerade andere Perspektiven zeigen will. So ergeben sich aus den Stimmen, die weder die üblichen Verdächtigen sind, noch in Europa oft gehört werden, wie automatisch selten gesehene Bilder, selten gehörte Geschichten, die sich stellenweise auch mit den gewohnten westlichen Mechanismen und dem gewohnten westlichen Wissen gar nicht entschlüsseln lassen – und auch gar nicht entschlüsseln lassen wollen. Das macht sie zwar manchmal anstrengend – aber eben auch interessant, so dass Kategorien wie "gelungen" oder "misslungen" mehr oder weniger zweitrangig werden. Jan Fischer, nachtkritik.de, 15.Juni 2018
Auf Deutschlandfunk resümiert Michael Laages seinen Festivalbesuch: Das Braunschweiger Festival "Theaterformen" widmet sich in diesem Jahr schwerpunktmäßig dem Thema Kolonialismus und dessen Folgen. Es geht um die Wahrnehmung schwarzer Körper und Unabhängigkeitskämpfer, die den ehemaligen Kolonisatoren treu waren. Von der "mulher mozambican", der mozambikanischen Frau, singt der Chor. Die kämpft sich gerade tanzend aus dem Gefängnis der Geschichte heraus, einen der großen Stoffballen auf dem Kopf balancierend, bricht sie auf aus vergitterter Welt. Die Tänzerin und Choreographin Janet (sic!) Mulapha aus Maputo hat starke Bilder entworfen zu Beginn eines Pakets mit drei kleinen Stücken, die für Braunschweig koproduziert wurde mit den Festivals in der mosambikanischen Hauptstadt und Grahamstown in Südafrika. [...] Das Braunschweiger Festival lässt sich intensiv ein auf die unterschiedlichen Theater-Spielformen, wie sie aus den Ländern eines Kontinents kommen, wo Theater und Kultur generell nicht gar so wichtig sind. Die Menschen haben andere Sorgen. Michael Laages, Deutschlandfunk, 16. Juni 2018
Über Samedi Détente von Dorothée Munyaneza und das mosambikanische Tanzstück Theka schreibt Andreas Berger in der Braunschweiger Zeitung: Sehr poetisch und optisch assoziationsreich hat Munyaneza die grausame Geschichte ihres Landes nachfühlbar gemacht, indem sie das Einzelschicksal hinter den Zahlen erzählt. [...] Ihr bewegendes Stück bekam respektvollen Applaus, ein paar Jubelschreie waren dem Thema unangemessen. Die gab es zuvor zuhauf und passend am Ende des eher folkloristisch geprägten Tanzabends "Theka" im Großen Haus. Was da völlig übertrieben als "tänzerische Rebellion gegen das Schubladendenken" angekündigt war, blieb weit hinter entsprechenden Unternehmungen des Tanztheaters etwa von Sidi Larbi Cherkaoui oder Akram Khan zurück. Das Stück aus Mosambik war sympathisch zu sehen und zeigte gerade im Kontrast zu den problemorientierten Stücken des Festivals die lebensbejahende, aus den eigenen Traditionen wachsende Kraft der Afrikaner, aber das tut die Show "Mama Africa" auch. Trommeln und Synthesizer, starke Gesänge und energische Bewegungen, mal im lockeren Ausfallschritt, mal im Ganzkörperstaccato, als koboldiger Rasta-Mann oder auratische Dame mit Schleppe, auch mal mit aufgerissenen Mündern fetischhaft Kopf an Kopf, zeichneten das eher traditionelle Bild des feiernden Afrikas. Da fehlte es Horácio Macucuas und Idio Chichavas Choreographie tänzerisch wie dramaturgisch an Störungen und Gegenspannung. Power und Charisma hatten die Tänzer freilich, das Publikum tobte. Andreas Berger, Braunschweiger Zeitung, 18. Juni 2018
Anja Quickert nimmt sich in ihrer Festivalkritik insbesondere die Stücke des im TURN-Fonds der Kulturstiftung des Bundes geförderten Arbeiten vor und schreibt in der Theater heute: Um nicht hinter dem Diskurs zurückzubleiben, hat sich Martine Dennewald [...] während der zweijährigen Konzeptionsphase Partner in Afrika gesucht und gemeinsam mit dem Festival Kinani in Maputo (Mosambik) und dem National Arts Festival in Grahamstown (Südafrika) einen Antrag bei der Bundeskulturstiftung gestellt. Die aus dem „Turn“-Fonds geförderten Koproduktionen und Gastspiele des Projekts „SCHULD“ bildeten den diesjährigen thematischen Schwerpunkt der Braunschweiger Festivalausgabe. Programmatisch schlüssig hat Dennewald die postkolonialen Perspektiven aus und um Afrika um weitere internationale und kapitalismuskritische Positionen ergänzt. Quickert schließt ihren Artikel wie folgt: In Achill Mbembes „Kritik der schwarzen Vernunft“ steht fast am Ende der Satz: „Der geschichtliche Prozess war und ist für einen großen Teil der Menschheit an die Gewöhnung an den Tod des Anderen.“ – Zumindest gegen die Gewöhnung ist Kunst ein wirksames Mittel. Theater heute, Anja Quickert, 01. August 2018
Theresa Schütz beschreibt in ihrem Überblicksartikel, erschienen in der Septemberausgabe der Theater der Zeit, Dennewalds kuratorisches Konzept: Um einen Festivaljahrgang zu planen, vergibt Martine Dennewald zunächst einen Rechercheauftrag an sich selbst. Diesem liegt ihr persönliches wie kuratorisches Begehren zugrunde, mit Theater etwas über die Welt zu lernen, den eigenen Horizont zu erweitern. Für den diesjährigen Schwerpunkt „Postkoloniale Verstrickungen“ bedeutet dies, neben dem Abarbeiten langer Leselisten und der gezielten Sichtung künstlerischer Positionen, die sich mit den Nachwirkungen des Kolonialismus beschäftigen, Künstlerinnen und Künstler aus afrikanischen Ländern nicht nur in der Sparte Tanz, sondern auch im Bereich Schauspiel einzuladen; es bedeutet, Menschen für sich selbst sprechen zu lassen, und es bedeutet, ganz bewusst weiße europäische mit schwarzen außereuropäischen Perspektiven zu konfrontieren. Um als weiße, privilegierte junge Frau aus Europa nicht allein über die Auswahl afrikanischer Arbeiten zu entscheiden, etabliert sie in Zusammenarbeit mit dem Festival Kinani Maputo und dem National Arts Festival Grahamstown unter anderem das Residenzprogramm „3x30“, um drei Künstlerinnen und Künstler aus Mosambik, Nigeria und Südafrika für eine eigene dreiminütige Stückentwicklung nach Braunschweig einzuladen. Das Journalist_innen-Programm Watch & Write, das im Rahmen von SCHULD im TURN-Fonds der Kulturstiftung des Bundes gefördert worden war, und deren Rezensionen sowohl auf dem Theaterformen Blog als auch in Kooperation mit Nachtkritik auf diesem Portal veröffentlicht worden sind, bewertet Schütz positiv:
Multiperspektivität in der Berichterstattung ermöglicht der TF-Blog, der in diesem Jahr ausschließlich eingeladenen Kulturjournalisten aus zehn afrikanischen Ländern vorbehalten war (Anm. der Red. Der Blog wurde sowohl von Bloggern als auch den Watch & Write-Journalist_innen bespielt). Dadurch kommen Stimmen zu Wort, die sonst fehlen, und ihre Texte laden ein, die eitgenen Geschmackspräferenzen und Bewertungsstrategien einzuordnen und zu relativieren. Theresa Schütz, Theater der Zeit, 01. September 2018