Esther Boldt über Tristesses und Oblivion
Zwei höchst unterschiedliche Künstlerinnen kommen aus Brüssel nach
Hannover: die Wallonin Anne-Cécile Vandalem und die Flämin Sarah Vanhee.
Während die Inszenierungen der einen hoch realistisch daherkommen, mit
sorgfältig ausstaffiertem Bühnenbild und einer Geschichte, sind die der
anderen reduzierte Versuchsanordnungen mit offenem Ausgang. Beide aber
sind nicht nur Regisseurinnen, sondern schreiben auch ihre eigenen Texte
und stehen selbst auf der Bühne. Ihre unterschiedlichen
Herangehensweisen haben viel mit den verschiedenen Traditionen zu tun,
in denen sie sich bewegen, ist die Theaterszene Belgiens doch nach
Sprachen segregiert: „Wir als Wallonen sind frankophon“, erzählt
Vandalem. „Wir gehören zu Frankreich, das eine starke Theatertradition
hat und eine Sprache mit einer Geschichte. Diese Tradition und diese
Geschichte haben ein Gewicht, das wir tragen müssen.“ Viele Wallonen
würden Theater noch immer mit Schauspiel gleichsetzen, während die
Flamen freier seien und mehr erfinden könnten. „Gewöhnlich sind die
Szenen sehr getrennt“, stimmt Vanhee zu. „Die belgische Identität ist
die Inklusion zweier Kulturen, die nicht so einfach zu verbinden sind.
Man lebt immer mit einem anderen, den man nie vollständig verstehen
wird.“ Während die flämische Szene in den letzten 15 Jahren eine starke
politische Unterstützung erfuhr, die die Gründung von Kompanien ebenso
ermöglichte wie Touring und Recherche, herrscht in der wallonischen
Szene erst jetzt Aufbruchstimmung: „Die Ausbildung verändert sich,
Schauspieler sollen auch Kreateure sein“, erzählt Ann-Cécile Vandalem.
Sowohl die bilderstarke Inszenierung Tristesses von Anne-Cécile Vandalem als auch die minimalistische Performance Oblivion
von Sarah Vanhee werfen einen höchst kritischen Blick auf unsere
Gegenwart: Vandalem erzählt die Geschichte eines fiktiven Dorfes, das in
einer wirtschaftlichen Krise der Propaganda einer neuen Partei
verfällt. Diese Propaganda basiert auf der Entstellung von Tatsachen,
darauf, dass Realitäten geschaffen werden, indem man sie herbeiredet –
indem beispielsweise Konflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen
Gruppen beschworen werden, wie dies Vandalem in den vergangenen Jahren
in den Reden von Politikern wie Nigel Farage, Marine Le Pen und Geert
Wilders beobachtet hat: „All diese Populisten arbeiten mit der Angst.
Sie geben Dinge vor, die die Realität auf eine bestimmte Weise
konstruieren. Die Sprache, die sie benutzen, schafft eine neue
Realität.“ Diesen Prozess verhandelt sie in ihrem Stück, in dem die
ausgebildete Schauspielerin auch die Hauptrolle der Rechtspopulistin
Martha Heiger spielt. Auf der Bühne steht bei ihr das Modell eines
Dorfes, dessen Innenräume als Filmsets dienen, während das Theater auf
dem öffentlichen Platz zwischen den Häusern stattfindet. Virtuos verwebt
die Künstlerin beide Ebenen, Darstellungsweisen und Realitäten zu einem
dunklen Traum über die Verführungskraft des Kontrafaktischen.
Die Bühne von Oblivion ist dagegen zunächst leer, um im
Laufe des Abends mit immer mehr recht kleinen Dingen gefüllt zu werden.
Ein Jahr lang hat Sarah Vanhee all ihren Müll gesammelt, gereinigt, in
Kartons verwahrt und archiviert. In ihrer Solo-Performance nun packt sie
ihn wieder aus und verwandelt diesen Prozess in eine Kontemplation über
unsere Wegwerfgesellschaft, die vorgibt, stets nur nach vorn schauen zu
können, in eine blitzsaubere Zukunft, während sich hinter ihr die
Müllberge türmen. Vanhee interessieren in ihren künstlerischen Arbeiten
stets die Dinge, die im Verborgenen liegen: „Eine Gesellschaft hat immer
eine Schattenseite, und jemand hat Interesse daran, diese verborgen zu
halten. Wir können viel lernen, wenn wir uns fragen, warum verborgen
ist, was verborgen ist.“ In ihrer Performance widmet sie sich der
Beziehung, die wir zu den Dingen unterhalten, und der permanenten
Transformation vom Wertvollen zum Wertlosen, die diese durchläuft. „In
den 1950er Jahren war eine gute Hausfrau eine, die nichts wegwarf“, so
Vanhee. „Heute gilt als pathologisch, nichts wegzuwerfen.“
Während Sarah Vanhee so das gewöhnlich Verborgene im
Scheinwerferlicht der Bühne neu arrangiert, lotet Anne-Cécile Vandalem
die Untiefen des Sichtbaren aus. Beide erzählen von zutiefst
irritierenden Transformationen, die unsere Gegenwart prägen – sei es nun
die Verwandlung begehrter Gegenstände in wertlosen Abfall oder die
Schaffung neuer Realitäten durch eine angsttreibende Rhetorik.
Tristesses läuft am 8. und 9. Juni um 19.00 Uhr im Schauspielhaus.
Oblivion läuft am 14. Juni um 21.00 Uhr und am 15. Juni um 19.30 Uhr im Ballhof Eins.
Esther Boldt
arbeitet als Autorin, Tanz- und Theaterkritikerin für Zeitungen und Magazine wie die taz, nachtkritik.de,
Theater heute und tanz Zeitschrift. Sie war zudem in verschiedenen
Jurys tätig, u.a. beim Hörspiel des Jahres 2009, bei der Tanzplattform
Deutschland 2014 und beim Else-Lasker-Schüler-Preis 2016. Foto: Harald Schröder
Anne-Cécile Vandalem
geboren 1979 in Liège, absolvierte die Schauspielschule in Liège und arbeitete mit verschiedenen Theaterkollektiven und Filmregisseuren zusammen. Seit 2003 schreibt und inszeniert sie selbst, 2008 gründete sie Das Fräulein (Kompanie). Zu ihren ersten Stücken zählten Zaï Zaï Zaï Zaï (2003) und Hänsel und Gretel (2005), zwischen 2008 und 2013 entstand die Trilogy of Paranthesis. In ihren Arbeiten setzt Vandalem Innen- und Außenräume, Fiktion und Realität, Kino und Theater in eine spannungsreiche Beziehung. Konkrete Wohnsituationen werden für sie zum Sinnbild einer individuellen, familiären oder kollektiven Prägung und immer wieder stellt sie die Frage nach den Möglichkeiten, Dinge zu verändern. Tristesses feierte 2016 in Liège Premiere. Foto: Jean-Benoit Ugeux
Sarah Vanhee
Jahrgang 1980, ist Performerin und Autorin aus Flandern. Vanhees
Stücke spielen oftmals an theaterfremden Orten – in privaten
Wohnzimmern, Gefängnissen und Parks. In Hannover zeigt Vanhee mit Oblivion
eine Bühnenarbeit, eine One-Woman-Show, die auf einem Selbstversuch
fußt und Performance-Art und visuelle Kunst vereint. Vanhees
Performances waren u a. zu sehen im De Appel Art Centre
in Amsterdam, im Centre Pompidou Metz, beim Brüsseler
Kunstenfestivaldesarts und beim Wiener Festival ImPulsTanz. Ihre
Arbeiten wurden nominiert für den Ton Lutz Prijs 2007, Prix Jardin
d’Europe 2010 und den VSCD Mimeprijs 2012. Vanhee ist Mitbegründerin des
Künstlernetzwerks Manyone. Foto: Phile Deprez